Viele Bäume machen noch keinen Wald
Interview mit Dr. Frauke Fischer, Biologin und UnternehmensberaterinWissen Sie, was Biodiversität ist? Wenn nicht, sind Sie damit nicht allein. Die Biologin und Unternehmensberaterin Frauke Fischer erklärt Biodiversität so, dass wir verstehen, was auf dem Spiel steht, wenn wir sie verlieren. Ein Gespräch über Wale als Kohlenstoffspeicher, die Gefahr von Ernährungskrisen und warum viele Bäume noch keinen Wald machen.
Frau Fischer, erklären Sie bitte, was die Begriffe Biodiversität und biologische Vielfalt bedeuten.
Das ist das gleiche. Biologische Vielfalt ist lediglich der Fachbegriff. Die Biodiversität besteht aus drei Komponenten. Die erste ist die genetische Vielfalt, also die Vielfalt innerhalb von Arten. Wir Menschen sind Homo Sapiens, gehören also alle zur selben Tierart. Wir sind aber offensichtlich keine genetischen Kopien voneinander. Das ist auch gut so. Denn die genetische Vielfalt führt dazu, dass wir eine Vielzahl von Interessen und Fähigkeiten haben. Bei fast acht Milliarden Menschen sind das sehr viele unterschiedliche Fähigkeiten. Das hat uns auch erst zu dieser so erfolgreichen Tierart gemacht. Für Tiere und Pflanzen ist genetische Vielfalt ebenso wichtig. Sie ist die beste Versicherung dagegen, auszusterben. Je vielfältiger die genetische Ausstattung einer Art ist, umso eher kann sie mit veränderten Umweltbedingungen wie extremer Hitze, extremer Kälte oder Nahrungsmangel umgehen. Bei einer eingeschränkten genetischen Vielfalt haben die Organismen ein ähnliches Immunsystem. Bricht eine Krankheit aus, die zufällig genau auf dieses Immunsystem passt, stirbt die Art aus.
Haben Sie ein Beispiel?
Das Problem zeigt sich, wenn wir uns die Welternährung ansehen. Mehr als 50 Prozent der Kalorien, die wir Menschen täglich zu uns nehmen, kommen von nur drei Pflanzenarten: Mais, Weizen und Reis. Von diesen Arten bauen wir nur ganz wenige Sorten an – also eine geringe genetische Vielfalt. Entwickelt sich eine Krankheit, die genau auf dieses genetische Set passt, bekommen wir innerhalb von Wochen oder Monaten eine globale Hungersnot.
Die Vielfalt der Arten ist die zweite Komponente.
Ein Mensch ist was anderes als ein Schimpanse, ein Hund keine Katze. Die Artenvielfalt kann man sich wie die Nieten in einem Flugzeugflügel vorstellen. Nehmen Sie an, Sie sitzen im Flugzeug und dann poppt die erste Niete raus, dann noch eine und noch eine. Eine Weile kann man das aushalten. Irgendwann ist es die eine Niete zu viel und der Flugzeugflügel fällt ab. Das wäre so ein Äquivalent zum Artensterben. Das blöde ist nur: Wir haben überhaupt keine Ahnung, welche Arten wichtig und welche weniger wichtig sind. Es ist russisches Roulette, das wir spielen.
Wie erklären Sie die dritte Komponente, die Vielfalt der Ökosysteme?
Eine Savanne ist was anderes als ein Regenwald, eine Wüste was anderes als ein Moor. Diese Vielfalt an Ökosystemen ist die Basis für Ökosystemleistungen. Die kann man in vier Gruppen teilen. Einmal sind da die Versorgungsleistungen. Das sind Dinge, die wir direkt aus der Natur entnehmen: Holz, Meeresfisch oder Trinkwasser. Dann gibt es Basisleistungen, dazu zählt zum Beispiel die Photosynthese; also die Fähigkeit von Pflanzen aus anorganischem Material, organisches zu machen. Die Regulierung des Klimas und die Bestäubung von Pflanzen gehören zur dritten Gruppe, den Regulierungsleistungen. Zur vierten Gruppe, den kulturellen Leistungen, zählen die Inspiration, die wir aus der Natur ziehen und die Erholung, die sie uns bietet.
Als Unternehmensberaterin sprechen Sie mit Führungskräften aus der Wirtschaft. Sind die sich der Bedeutung von Biodiversität bewusst?
Bei den Baden-Badener Unternehmer Gesprächen bekam ich Standing Ovation für eine Key Note und gleichzeitig wurde mir danach gesagt: „Wie kann das sein, dass wir das nicht wissen? Wir leiten diese großen Konzerne und wissen, dass Klimaschutz und Klimawandel ein wichtiges Thema sind. Wir haben aber noch nie davon gehört, wie wichtig Biodiversität ist.“ Das ist leider nicht nur in großen Industriekonzernen der Fall. Das finden wir sogar bei Unternehmen aus der Lebensmittelbranche, deren Kerngeschäft das ist.
Woran liegt das?
Ein Hauptgrund ist, dass es immer eine Weile dauert, bis wissenschaftliche Erkenntnis in den Mainstream gelangt – also in Politik, Gesellschaft und im Journalismus ankommt. Vor dreißig Jahren haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gesagt, dass der Klimawandel ein großes Problem ist. Wir haben 30 Jahre lang gegen Windmühlen angeredet. Beim Klimawandel sprechen wir darüber, wie wir in Zukunft leben, beim Verlust von Biodiversität und Ökosystemen reden wir davon, ob wir in Zukunft überhaupt noch leben. Das ist leider noch nicht angekommen. Wir sind seit 2008 in einer Art Dauerkrisen-Modus: Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Corona-Krise, jetzt der Krieg in der Ukraine, Hitzewellen. Die meisten Leute denken, „oh man, wir haben echt Pech.“ Sobald eine Sache geschafft ist, kommt die nächste. Doch das hat alles direkt mit unseren Eingriffen in die Natur zu tun, alle Krisen können wir darauf zurückführen.
Dann lassen Sie uns über Biodiversität und Klimawandel sprechen. Wie hängt das zusammen?
Wir würden unseren Klimaschutz-Zielen viel näher kommen, würden wir aufhören, riesige Waldflächen zu zerstören. Mindestens zehn Prozent der weltweiten Emissionen stammen daher. Die Waldzerstörung passiert tagtäglich und weitestgehend unbemerkt. Die Monate der allergrößten Entwaldung waren April und Mai 2022. Im Amazonas wurden in diesem Zeitraum knapp 2000 Quadratkilometer Regenwald zerstört. Das kommt bei uns in den Nachrichten gar nicht vor. Stattdessen wurde berichtet, dass zehn Quadratkilometer Yellowstone-Nationalpark brennen. Das sind Peanuts im Vergleich zu dem, was weltweit passiert. Der Verlust von Biodiversität treibt den Klimawandel – sei es durch die Zerstörung der Ökosysteme oder durch das Verbrennen von Wäldern. Ein weiteres, vielleicht etwas skurriles Beispiel: Durch die Zerstörung der Wal-Population auf unserem Planeten haben wir in den rund 100 Jahren industriellen Walfangs 70 Millionen Tonnen CO2 zusätzlich in die Atmosphäre entlassen. Das war der Kohlenstoff, der in den großen Tieren gebunden war. Wenn sie sterben, sinkt er normalerweise in den Meeresgrund ab und wird dort zugedeckt. Die Zerstörung von Biodiversität treibt maßgeblich den Klimawandel und umgekehrt ist unsere beste Versicherung gegen den Klimawandel der Erhalt und die Renaturierung von Ökosystemen.
Können wir Ökosysteme reparieren, indem wir zum Beispiel Wälder aufforsten?
Uns muss klar sein: Menschen können Bäume pflanzen, keinen Wald bauen. Deshalb ist es auch so schlimm, dass wir intakte Wälder verlieren. Viele haben die Illusion, einfach wiederaufforsten zu können. Aber was da verloren geht, hat eine unendlich höhere Qualität als das, was wir dorthin bauen. Wir haben allerdings auf der Welt 350 Millionen Quadratmeter degradierte Flächen. Das sind Flächen, auf denen einmal intakte Ökosysteme standen, häufig war das Wald. Diese Flächen liegen jetzt brach; obwohl wir eine Nahrungsmittelkrise haben, eine Klimakrise, wo wir Kohlenstoff binden und globale Wasserkreisläufe am Leben erhalten müssten. Deshalb ist es trotzdem wichtig, solche Flächen zu renaturieren. Die oberste Priorität muss jedoch sein, intakte Ökosysteme zu schützen. Priorität Nummer zwei: versuchen zu reparieren, was wir kaputt gemacht haben. Zu diesen Reparaturen gehört zum Beispiel die Wiedervernässung von Mooren, die Aufforstung mit einheimischen Bäumen, die dem Standort angepasst sind. Ich habe eine Studie gelesen, dabei ging es um Aufforstungsprogramme von Mangroven. Über 80 Prozent dieser Aufforstungsversuche sind fehlgeschlagen. Da war dann nach einem Jahr nichts mehr. Man kann nicht einfach irgendwo Bäume hinpflanzen und dann funktioniert das. Das ist eine Wissenschaft für sich.
Der Wert dieser gesamten Ökosystemleitungen ist etwa so hoch wie das weltweite Bruttosozialprodukt. Braucht es ein solches Preisschild, um zu erkennen, wie wertvoll die biologische Vielfalt ist?
Diese Berechnungen sind wissenschaftlich fundiert und haben große Aufmerksamkeit erzeugt. Viele Menschen verstehen Zahlen besser, als wenn man einfach nur sagt, das ist wichtig und wertvoll. Die Kritik, die daran geübt wird, kann ich aber auch nachvollziehen. Wenn etwas einen Preis hat, kann es jemand kaufen und dieses Eigentum zerstören. Jemand könnte den gesamten Amazonas kaufen und komplett abholzen. Das ist problematisch, weil hier ethische und weltpolitische Aspekte eine Rolle spielen – und das Überleben von uns als Art. Deswegen muss man vorsichtig sein. Ein Wert ist was anderes als ein Preis.